
©Iris R. Selke 2012
Hinter dem Spiegel
Im Zentrum des künstlerischen Schaffens von Iris Selke steht sie selbst, mit ihrem Körper als Medium der Veranschaulichung – authentischer kann das künstlerische ‚Arbeitsmaterial‘ kaum sein, mehr Einsatz geht nicht.
Nach dem Studium bei Marina Abramović entwickelt Iris Selke in ihren Performances, Filmen und fotografisch bald eine ganz eigene facettenreiche Ausdrucksform. Ihre Arbeiten kreisen vielfach um die Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen. Dabei zielt ihr Körpereinsatz nicht vorrangig auf den Schauder, die Provokation des Betrachters durch drastische Eigengefährdung – diese ist, wenn immanent, dann wohl kalkuliert. Doch die Möglichkeit der leibhaftigen Verletzung ist gegenwärtig, schwingt quasi ‚subkutan‘ mit.
Selke agiert auf unterschiedliche Weise in Stellvertreterrollen, indem sie ihren weiblichen Körper sehr direkt und unmittelbar in den Fokus stellt und ihn in seiner Leiblichkeit aussetzt, oder indem sie bestimmte (kunst-)geschichtliche Prototypen verkörpert wie in einer Serie von Fotoinszenierungen jüngerer Zeit. Hier personifiziert die Künstlerin Hamlet, van Gogh oder Spitzwegs armen Poeten und jongliert mit dem Nimbus dieser Vor-Bilder. Charakteristische Attribute (der Schädel, ein Schwert, Bücher), die den eigenen Symbolgehalt ‚selbstredend’ einbringen, dienen ihrem Alter Ego zur Verstärkung – oder wirken überraschend subversiv, deuten um und ironisieren das Szenario.
Iris Selke konterkariert manifeste Geschlechteridentitäten, tauscht sie oder doppelt sie sogar, indem sie den weiblichen, den männlichen Part oder beide Rollen übernimmt und so eine gleichermaßen sehnsuchtsvolle wie konfliktbehaftete Dualität darstellt. Sie ist Maria und sie ist Luigi in der gleichnamigen Arbeit, bei der es trotz konträrer Handlungen beider Protagonisten im überblendeten Doppelbild letztendlich zur androgynen Verschmelzung kommt.
Doch beschränkt Selke sich in ihrem Schaffen nicht auf genderspezifische Reflexionen. Die Möglichkeit der eigenen Vergänglichkeit ein überdauerndes Abbild entgegenzusetzen – der Zeit, dem Tod, der Historie noch zu Lebzeiten ein Schnippchen zu schlagen – war früher den Herrschenden vorbehalten. Die Kunst verhalf auftragsgemäß mit Porträts und Denkmalen zur Bedeutung. Der Wunsch aber zieht sich durch die Zeiten und Bevölkerungsgruppen (und äußert sich in Graffiti-Tags an Hauswänden ebenso wie im alltäglichen Absetzen des eigenen Konterfeis in den Netzwerken). Auch hier nimmt die Künstlerin wieder Stellvertreterpositionen ein, collagiert sich als Quadriga in Personalunion auf der Replika-Fassade des Braunschweiger Schlosses oder scheint im Film Jipijajee! wie Peter der Große auf dessen St. Peterburger Standbild zu reiten, sie kratzt an tradierten Hoheitszeichen und desavouiert überkommene Machtdemonstrationen. In der Performance Lion bindet Iris Selke die Genderthematik an die Infragestellung von Herrschaftssymbolen: Sie wird gesäugt vom Braunschweiger Löwen, einer stadt- und kunsthistorisch relevanten Bronzeplastik des Mittelalters.
Die Kunstgeschichte dient Iris Selke mehrfach als direkter Fundus: Bei dem Tribute to Caravaggio ist dessen Malerei die projizierte Grundlage für eine eigene Einbindung, indem die Künstlerin durch ihr Tun mit dem Bild verschmilzt, zum Teil dessen wird. Ihre Auseinandersetzung mit dem Meister des Chiaroscuro setzt sich fort in der Arbeit Instantia, bei der das Haupt des Holofernes – oder eher das der Judith, wieder so eine Umdeutung der Rollen – angerichtet auf dem Teller am Kopf der Tafel, den Appetit der am Festmahl Beteiligten nicht schmälert. Dramaturgisch bedient sich auch Iris Selke des Setzens von Kontrasten zur Überhöhung von Situationen, Personen in ihren Handlungen, die auf den Augenblick höchster, verdichteter Dramatik zusteuern. Bei der frühen Performance Narzissus kulminiert diese im kraftvollen, grenzwertig autoaggressiven Zerschmettern des eigenen Spiegel-Bildes. Was ist Projektion und was bleibt, wenn der oberflächliche Schein zerstört wird?
Jessica Reintjes
ISBN 978-3-00-048661-6 / 64 seiten